Dr. Dellers - TOR Music Productions

  1. Sebastian auf seiner Wolke

    eine Kindergeschichte von Tassilo Dellers mit Illustrationen von Helen Dellers

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ausgewählte Textpassagen und Bilder:

Sebastian ist sieben Jahre und neun Monate alt. Er lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Mitten durch die Stadt fließt der Rhein, und wenn es warm ist, so wie jetzt im Sommer, gehen sie oft zusammen an den öffentlichen Badestrand. Sebastian kann erst ein paar Meter weit schwimmen. Er traut sich noch nicht auf den Fluss hinaus, aber er sitzt gern im seichten Wasser hinter der sicheren Umzäunung und schaut den Großen nach, wie sie sich lachend und selbstsicher ins Wasser stürzen und in Sekundenschnelle von der Strömung weggetragen werden.
Manchmal fragt er seine Mutter, ob sie nicht doch zusammen hinausschwimmen wollten, er in seinem aufblasbaren Schwimmring. Sie antwortet dann lächelnd: »Warten wir doch, bis du ein bisschen älter bist und richtig schwimmen kannst.«
Eigentlich ist Sebastian immer ganz froh, wenn sie diese Antwort gibt. Denn er fühlt sich ehrlich gesagt gar nicht wohl bei dem Gedanken, der schnellen und reißenden Strömung ausgeliefert zu sein. Aber das weiß seine Mutter zum Glück nicht.

Sebastian wohnt in einer gemütlichen Wohnung im obersten Stockwerk eines sechsstöckigen Hauses. Die Wände seines Zimmers sind voller Bilder und Zeichnungen von Flugmaschinen aller Art: altmodische Doppeldecker, moderne Düsenjets in allen Größen, Helikopter, Heißluftballone und verschiedenste Weltraumraketen. In seinem Regal an der Wand hat er über fünfunddreißig selbst zusammengebaute Flugmodelle, die meisten aus Plastik- oder Karton-Bausätzen, die er aus seinem Lieblingsspielwarengeschäft bekommen hat.
Sein Lieblings-Helikopter, ein Geschenk zum letzten Geburtstag, ist sogar aus Metall, mit richtigen Schrauben und Muttern zusammengesetzt. Es ist das größte Modell, das er hat, etwa sechzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter hoch, und es ist auch das komplizierteste: Seine Mutter musste ihm beim Zusammenbauen helfen und das dauerte mehrere Tage.
»Ich habe dir doch gesagt, dass es für Ältere bestimmt ist, auf der Packung steht deutlich ›ab zwölf Jahren‹ und du bist erst sieben Jahre alt«, hatte ihm seine Mutter entnervt vorgeworfen, als sie nach zwei ganzen Nachmittagen noch nicht einmal die Hälfte geschafft hatten. »Du bist doch schon lange zwölf«, antwortete Sebastian schnippisch, »wieso kannst du es dann nicht?«

Nach vier anstrengenden Tagen schafften sie es endlich, den Helikopter irgendwie zusammenzubauen, obwohl immer noch ein paar Schrauben und Metallverstrebungen unbenutzt in der Packung herumlagen. »Die brauchen wir nicht, das sind bloß Ersatzteile«, beruhigte ihn die Mutter.Seither schaut Sebastian seinen Helikopter jeden Tag voller Freude und Stolz ausgiebig und von allen Seiten an.Wann immer er sich etwas wünschen darf, zum Geburtstag oder an Weihnachten oder etwas Kleineres zwischendurch, sind das neue Flugbausätze oder Bücher über das Fliegen und den Weltraum. Sebastian ist sehr zufrieden, dass sie im obersten Stock wohnen und dass kaum höhere Häuser in der Umgebung stehen. Von seinem Fenster aus sieht er über die Dächer der Stadt bis weit in die Landschaft hinaus.Nachts, wenn er schlafen geht, kann er von seinem Bett aus direkt den Himmel sehen, mit seinen unendlich vielen Sternen - einer davon ist sein Papa.Das weiß er von seiner Mutter. Vor Jahren hat er sie gefragt, ob er eigentlich auch einen Papa habe, so wie alle anderen Kinder im Kindergarten. Sie erklärte ihm, dass Papa an einer schweren Krankheit gestorben ist, als Sebastian gerade zwei Jahre alt war. »Jetzt fliegt er glücklich und frei wie der Wind als Stern im Himmel umher und schaut in der Nacht ab und zu bei uns durchs Fenster herein.«»Und warum kommt er nicht auch einmal am Tag zu uns geflogen und besucht uns?«, wollte Sebastian wissen.»Am Tag schlafen die Sterne, man sieht sie ja dann auch nicht am Himmel, sie kommen erst in der Nacht, wenn wir schlafen«, erwiderte seine Mutter.Sebastian spürt, dass sie immer ein bisschen traurig wird, wenn sie von Papa redet. »Er sieht uns beide immer. Aber wir können ihn nicht sehen, weil er so weit oben im Himmel ist und so schnell umherfliegt«, sagt sie.

... Sebastian liegt am Abend oft auf seinem Bett und beobachtet den Abendhimmel, wie er sich langsam verfärbt und dunkel wird und einzelne Sterne zu funkeln beginnen, bis ein ganzes Meer von Sternen zu ihm herabblinkt. Ab und zu sieht er einen Stern mit rasender Geschwindigkeit über den Himmel sausen. Dann denkt er, das ist jetzt vielleicht Papa, der sich freut und es da oben lustig hat.
Sebastian will auch fliegen. Er weiß seit er fünf Jahre alt ist, dass er einmal Pilot wird. Er kennt sich schon sehr gut aus mit allen möglichen Flugmaschinen. In seinem Bücherregal stehen 14 Bücher mit Flugmaschinen aller Art aus allen Epochen und neben den unzähligen Fotos und Postern hängen an seinen Wänden auch sehr viele Zeichnungen, die er in den letzten Jahren gemacht und immer sorgfältig benannt hat:
Da hängt zum Beispiel ein ›KLEINES UND SCHNELLES 2-PROPPELLER-FLUKZEUK‹ oder ein ›RASENDER DÜSSENTSCHETTER FÜR 3 PERSONEN‹ oder, seit einiger Zeit sein Lieblings-Flugobjekt, weil es direkt vom Boden aufwärts starten kann, ein ›2-PLATZ-HELIOKOPETER‹. Er hat sogar ein paar Zeichnungen mit einer ›WELTRAUM-RAKETE FÜR DEN MOND ODER MARS‹ gemacht. Er will später, wenn er groß ist, mit allen diesen Fluggeräten jede Nacht im Himmel herumfliegen und suchen, bis er seinen Papa findet. Dann bringt er ihn mit seinem Flugzeug in die Wohnung zurück, wo er und Mama leben. So hat er es seiner Mutter vor dem Schlafengehen schon oft versprochen, und sie hat ihn dann angelächelt und ihm liebevoll über das Haar gestrichen und ihm einen zärtlichen Gutenachtkuss gegeben ...


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... Seit einem halben Jahr geht Sebastian in die Grundschule. Er geht sehr gern dahin, weil er endlich alles Notwendige lernen möchte, um so schnell wie möglich Pilot zu werden.
Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass er seiner Lehrerin nicht zuhört, sondern nur dasitzt und vor sich hin träumt, wie er fliegt und den Himmel und die Sterne nach seinem Vater absucht. Dann ruft die Lehrerin zwei- bis dreimal laut: »Sebastian, Sebastian, hallo, aufwachen!«, und er ist plötzlich wieder da und weiß nicht, was los ist und warum ihn alle anschauen und lachen. In den Unterrichtspausen sitzt er meistens allein auf einer Bank und ist ganz in eines seiner vielen Bilderbücher über Flugzeuge oder Sternkarten vertieft. Die anderen hänseln ihn, bewerfen ihn mit Kieselsteinen und rufen ›Schlafmütze‹ und ›Träumer‹, aber das stört ihn nicht. Er interessiert sich nicht für seine Mitschüler, die begreifen ja sowieso nicht, mit was für wichtigen und schwierigen Dingen er sich hier beschäftigt. Die sind alle nur kindisch und sicher auch neidisch auf ihn, weil er Pilot wird ...

... Die meisten Unterrichtsfächer fand er ja noch einigermaßen spannend, außer zum Beispiel so unnötige Sachen wie Rechtschreibung und Grammatik. Er konnte nämlich schon lange lesen und schreiben, besser als alle seine Mitschüler, und er war stolz darauf. Und er konnte überhaupt nicht einsehen, warum man zum Beispiel ›spielen‹ anstatt ›schpilen‹ schreiben sollte, obwohl man ja in Wirklichkeit schpilen sagt und nicht s-p-i-e-l-e-n. Oder warum ›ein foller Teller Suppe‹ falsch sein sollte. Da konnte er die Lehrerin nicht verstehen und wunderte sich überhaupt, mit was für Kleinigkeiten sich die Erwachsenen offenbar beschäftigen und das alles auch noch für schrecklich wichtig halten. Einmal hat ihm seine Lehrerin doch tatsächlich vor der ganzen Klasse erklären wollen, wie man Flukzeuk und Heliokopeter richtig schreiben sollte, ihm, dem Fachmann auf diesem Gebiet. Er hat im Zeichenunterricht zwei Bilder mit seinen Lieblingsflugmaschinen gemalt und sie dann stolz beschriftet. Auf einem stand: ›KLEINES, SEHR SCHNELLES DÜSSENFLUKZEUK‹, auf dem anderen war ein ganz spezielles Helikopter-Modell, auf das er besonders stolz war...

... Die Lehrerin lobte zwar seine Bilder, aber sie wollte ihm auch klarmachen, dass man richtigerweise ›Flugzeug‹ und ›Helikopter‹ und ›Düse‹ mit einem ›s‹ schreibt. Alle in der Klasse lachten. Sebastian wurde ganz still und rot. Er sagte kein Wort und dachte sich nur: »Die ist ja doch keine Pilotin, die ist ja nur eine Lehrerin, die weiß doch nicht, was ein Heliokopeter ist und wie man damit fliegt. Und überhaupt ist das meine Zeichnung mit meinem Heliokopeter darauf und ich weiß schon seit Jahren, dass man das so schreibt!« So saß er da und sagte nichts und hatte einen roten Kopf, der fast platzte.

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... Eines Nachts geschah etwas Seltsames. Etwas, das Sebastian sein ganzes Leben nie mehr vergessen würde.
Er träumte, dass es plötzlich mitten in sein Zimmer und in sein Bett hinein regnete. Er wurde nass und begann zu frieren – da wachte er auf. Es war dunkle Nacht, aber er konnte draußen keinen einzigen Stern sehen, denn durch das offene Fenster drang dichter Nebel und erfüllte das ganze Zimmer. Dazu hörte er in seinem Kopf ein Flüstern oder ein Rauschen, das zu ihm sagte: »Sebastian, komm mit, wir wollen fliegen.« Sebastian erschrak und blickte umher. Er knipste das Nachttischlämpchen an, aber alles blieb düster und neblig, er konnte nichts erkennen. Dann wieder dieses Flüstern, er hörte es nicht mit den Ohren, sondern direkt in seinem Kopf: »Kommst du? Komm, wir wollen zusammen fliegen, Sebastian.« Er fragte laut: »Wer bist du? Wo bist du?« Das Flüstern antwortete: »Ich bin eine Wolke, setz dich auf mich, wir fliegen zusammen durch die Nacht.« Da zogen sich die Nebelschwaden, die im ganzen Zimmer verteilt waren, langsam zusammen und bildeten eine kleine, dichte Wolke. Vorne konnte Sebastian unklar die Konturen eines freundlichen Gesichts erkennen. Es blieb allerdings nie gleich, es verzog und verformte sich, es verschwand und kam wieder zum Vorschein. »Kommst du jetzt?«, hörte er wieder das Flüstern. Aber Sebastian, der unterdessen hellwach geworden war, wusste, dass Wolken aus Millionen kleinster Wassertropfen bestehen, das hatte er in einem seiner Bücher gelesen. »Nein, das geht nicht«, flüsterte er zurück. Er flüsterte leise, weil es mitten in der Nacht war, und er wollte nicht, dass seine Mutter aufwachte. »Ich würde ja durch dich hindurch fallen und abstürzen.«
»Aber nein«, entgegnete die Wolke, »komm nur, setz dich auf meinen Rücken, dann wirst du schon sehen.«
Sebastian stand von seinem Bett auf, ging auf die Wolke zu und sprang mit einem kleinen Satz auf sie drauf. Und tatsächlich: Er schwebte mit der Wolke etwa einen halben Meter über dem Boden seines Zimmers. Es fühlte sich ganz weich und bequem an und auch gar nicht feucht oder kalt, wie er es erwartet hatte. Aber als er an sich hinunterschaute, erschrak er heftig: Er war plötzlich selbst ganz durchsichtig und durchlässig geworden, er konnte durch seine Beine und die Wolke verschwommen den Fußboden sehen. Und auch als er seine Arme vor das Gesicht hob, sah er durch sie hindurch. Wie durch feine Nebelschwaden konnte er die Wände seines Zimmers mit allen Zeichnungen erkennen. »Du bist jetzt so wie ich«, flüsterte die Wolke. »Solange du auf mir sitzt, bist du selbst eine kleine Wolke, in mich hinein verwoben.«
Sie flogen los. Langsam schwebten sie zusammen aus Sebastians Fenster in den sommerlich warmen Nachthimmel hinaus. Als sie das Fensterbord passierten, hatte Sebastian schon ein bisschen Angst. Immerhin schwebten sie aus dem sechsten Stockwerk, und er konnte durch die Wolke hindurch die Straße etwa sechzehn Meter unter sich durchschimmern sehen. Er krampfte sich zusammen und suchte instinktiv nach einem Halt, aber seine Beine streckten sich durch die Wolke hindurch und schauten unten hinaus. Auch mit seinen Armen konnte er sich nirgends abstützen. So strampelte und wedelte er eine Zeitlang hilflos herum, blieb aber doch irgendwie in der Wolke hängen.

Er schaute ganz aufgeregt und interessiert um sich. Sie flogen sehr nah an einer Kirchturmspitze vorbei, direkt an der Uhr, die er schon oft von unten gesehen hatte. Aber jetzt, als sie so nah daran vorbei flogen, kam sie ihm riesig vor. Es war gerade zwölf Uhr nachts, die Glocken fingen an zu schlagen. Ihr Klang dröhnte verschwommen durch Sebastian hindurch. So hören also die Wolken, dachte Sebastian. Die haben ja auch gar keine richtigen Ohren. Sie flogen über die Fußgängerzone der Innerstadt und kamen über eine Straße, die Sebastian sehr gut kannte. Oft ging er hier mit seiner Mutter in sein Lieblingsspielzeuggeschäft – das mit den vielen Modellbaukästen und Bilderbüchern von allen möglichen Flugmaschinen. Er staunte, dass die Straße unten immer noch voller Menschen war. Schlafen denn die Erwachsenen nie?, fragte er sich. »Die kommen jetzt aus dem Kino oder aus dem Restaurant«, flüsterte ihm die Wolke zu.

Und dann: »Liebst du die Achterbahn? Willst du Achterbahn mit mir fahren?« Bevor Sebastian eine Antwort geben konnte, sausten sie zusammen schnurgerade abwärts auf die Straße und die Leute zu. Sebastian kreischte laut auf, die Wolke änderte knapp vor dem Aufprall die Richtung und zog mit rasender Geschwindigkeit wieder senkrecht nach oben in den Himmel. In etwa hundertfünfzig Metern Höhe flogen sie einen Doppel-Looping und sausten ein zweites Mal abwärts auf die Straße. Sebastian schrie wieder laut auf, aber diesmal aus Freude und Spaß. Jetzt wußte er, daß ihm nichts passieren konnte. Sie flogen noch ein paar Mal hinauf und hinunter, immer schneller und mit immer größeren Loopings, bis fünfhundert Meter hoch.

Die Häuser sahen von oben herab ganz winzig aus, wie Spielzeug, wie Puppenhäuser. Sobald sie unten durch die Straße und die Menschen brausten, drehten sich ein paar Leute um und fragten sich untereinander: »Haben Sie auch gerade so ein Pfeifen gehört?« Oder: »Hat da etwas gespritzt? Gibt es ein Gewitter?

 ... Auf dem Heimweg in die Stadt braute sich ein Gewitter zusammen.
»Oh, wir haben Glück! Das gibt einen gewaltigen Radau«, freute sich die Wolke. »Da mischen wir mit!«
Sebastian verstand nicht, was die Wolke damit meinte. Er sah nur mit wachsendem Unbehagen, wie sie direkt das Zentrum eines riesigen, dunklen und bedrohlichen Wolkengebäudes ansteuerten. Immer mehr Wolken kamen dazu, eine dicke, schwarze Suppe bildete sich, ein kräftiger Wind zog auf und erste kleine Blitze stachen hervor. Sebastian wusste von seiner Mutter, dass man sich vor Blitzen in Acht nehmen musste. Dass man nicht auf einer offenen Wiese stehen durfte, und auch nicht unter einem Baum. Möglichst schnell sollte man in einem Haus oder unter einem Scheunendach Zuflucht suchen.
»Was machst du? Bist du verrückt? Das ist gefährlich! Siehst du denn die Blitze nicht?«
»Ach was«, gab die Wolke lachend zurück. »Das macht uns Wolken nichts aus, du wirst schon sehen!«
Geradewegs flogen sie in das brodelnde und zuckende Unwetter hinein. Kaum waren sie darin, ging mit Sebastian etwas so unerhört Seltsames und Aufregendes vor, dass er seine Angst sofort vergaß: Er war mit einem Mal riesengroß und fühlte sich mächtig und stark wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Wolke und er hatten sich mit allen anderen Wolken zu einem gewaltigen Ganzen verbunden. Sebastian war plötzlich über tausend Meter lang und fast ebenso breit. Es brodelte in ihm von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln und die Blitze zuckten aus seinem eigenen Bauch hinaus. Als wenn er überall Augen hätte, sah er gleichzeitig die Maisfelder und die Straßen und Wege und den Rhein und die ersten Häuser vor der Stadt, alles ganz nah und deutlich. Er sah, wie die Menschen unten in alle Richtungen rannten und einen Unterschlupf suchten.
Jetzt brach das Gewitter los. Es krachte und spritzte aus Sebastian heraus, er spürte eine übermenschliche Kraft in sich. Wenn er schrie oder lachte, donnerte es, wenn er spuckte, blitzte es aus all seinen Poren auf die Erde hinab. Sebastian raste und tobte und genoss seine Kraft.

Und auf einmal, mitten in diesem Getöse, katapultierte es ihn – schwupp – nach oben. Wie weggezaubert saß er wieder ruhig auf seiner kleinen Wolke, ein paar hundert Meter über dem Gewitterherd.
»Wir wollen lieber nicht zu lang darin bleiben«, rief die Wolke. »Sonst regnen wir noch mit der ganzen Sturzflut hinab auf den Boden. Und dann dauert es seine Zeit, bis wir wieder verdunsten und zu einer Wolke werden. Ein paar Tage vielleicht kämst du nicht mehr nach Hause. Das wollen wir deiner Mutter doch nicht antun!«
Sebastian fühlte sich noch ganz benommen. Er spürte, dass er wieder klein war, so wie immer. Er sah, wie das Gewitter da unten allein weitertobte, jetzt ohne ihn und die Wolke, als ob nichts gewesen wäre. Sie flogen heimwärts.
»Wie hat es dir gefallen, selbst ein Sturm zu sein?«, lachte die Wolke. »So etwas hast du wohl noch nie erlebt!«
Sebastian antwortete nicht, er war plötzlich sehr müde und schlief auf der Wolke fast ein. So schwebten sie zusammen wieder in die Stadt zurück, in seine Straße, zu seinem Haus, durch das offene Fenster hinein, direkt in sein Bett.
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... Kaum hatte Sebastians Mutter das Licht gelöscht und das Zimmer verlassen, strömte die Wolke herein und sagte: »Deine Mutter hat dir heute aber lange vorgelesen, ich warte schon eine Ewigkeit draußen.« Sebastian hüpfte vor Freude mit einem Satz aus dem Bett geradewegs auf den Rücken der Wolke: »Hü hopp und los!« Und wirklich: Schnell wie ein Sturmwind brausten sie davon über die Hausdächer, waren im Nullkommanichts über den Stadtrand hinaus und weiter ging’s über die Hügel, Felder und Wälder. Sebastian jauchzte und schrie: »Schneller, noch schneller!« Die Winde waren heute Nacht stark und wild und unterstützten ihren rasanten Flug. Sie flogen mit wachsender Geschwindigkeit auf die hohen Berge zu, die ein paar Kilometer weiter in den Himmel ragten. Kurz bevor sie dort waren, bekam es Sebastian wieder mit der Angst. Er schrie: »Pass auf, flieg höher, sonst krachen wir in die Felswand!«
»Keine Sorge«, rauschte es zurück, du wirst sehen, das wird lustig! Das habe ich schon oft gemacht in den stürmischen Bergwinden.« Kaum hatte die Wolke ausgeredet, ging es knapp vor der Felswand steil aufwärts. Wie in einem Aufzug rasten sie senkrecht den Felsen entlang nach oben. Sebastian fühlte ein starkes Kribbeln in seinem Bauch. Er war zwischen Furcht und Freude hin- und her gerissen, aber er vertraute seiner Wolke. Sie schossen über den Grat der steilen Felswand hinaus. Mit dem Schwung von vorhin und den starken Winden ging es noch etwa zwei- bis dreihundert Meter nach oben, dann kippten sie vornüber und fielen wie auf der Achterbahn abwärts direkt auf eine schneebedeckte, im Sternen- und Mondlicht grauweiß erleuchtete Ebene. »Schnee!«, rief Sebastian ganz begeistert. »Schnee! Es ist doch Sommer, schau nur, hier liegt Schnee!«
»Diese Berge sind so hoch, die sind hier oben das ganze Jahr hindurch schneebedeckt«, erwiderte die Wolke. »Hierher komme ich immer, wenn ich rodeln möchte.« Mit einem Rums krachten sie auf die abschüssige Ebene und schlitterten in einem Höllentempo direkt weiter über den holprigen, vereisten Grund, so schnell, wie Sebastian im Leben noch nie gerodelt war. Links und rechts spritzten der Schnee und die Eiskristalle wie Gischt im Meerwasser an ihnen vorbei.

Die Ebene fiel immer steiler ab und Sebastian sah, wie sie auf einen Abgrund zurasten. Ein tiefes ›Hohoh‹ und ein helles ›Iiihh‹ schallten in den Nachthimmel und in die Berge hinein, als sie darüber hinaus preschten. Nach über zehn immer größeren und immer schnelleren Loopings quietschte Sebastian: »Stopp, halt an, Erbarmen, ich kann nicht mehr!«
»Schon genug?«, lachte die Wolke. Sebastian konnte nichts mehr erwidern. Er lag bäuchlings auf der Wolke ausgestreckt und stieß ein paar zufriedene und erschöpfte Seufzer aus. »Also, dann machen wir halt eine Pause«, sagte die Wolke. »Ich kenne hier oben einen Ort mit einer wunderbaren Aussicht.« Sie flogen auf die höchste Bergspitze hinauf und hakten sich oben fest. Da saßen sie nun gemütlich und bestaunten das wundervolle Panorama auf die anderen Berge und auf die Täler.

... Sebastian wurde ganz still und blickte aufmerksam in alle Richtungen, als suche er etwas Bestimmtes. »Was denkst du?«, fragte ihn die Wolke. Eine kleine Träne kollerte über Sebastians Wange. »Was hast du denn? Findest du es hier oben nicht wunderschön?«
»Irgendwo da oben ist mein Papa«, antwortete Sebastian ganz leise. »Er ist ein heller und großer Stern, aber die Sterne sind auch hier oben auf den höchsten Bergen immer noch so weit weg. Da kann er mich sicher nicht sehen. Wir müssten viel höher in den Himmel hinauf, um ihn zu finden. So wie eine Mondrakete. Aber das können Wolken ja nicht.«
Die Wolke schwieg eine Zeit lang. Dann schlug sie vor: »Ein Versuch schadet vielleicht nicht. Ich war noch nie viel höher als in diesen Bergen, aber wir könnten es ja ausprobieren.« Sebastian blickte die Wolke mit einem Hoffnungsschimmer an und fragte ängstlich: »Ja aber, ist es denn nicht gefährlich, so hoch hinauf zu fliegen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete die Wolke. »Ich war noch nie da oben bei den Sternen. Wollen wir es wagen?«
Sebastian wurde unsicher. Bis jetzt hatte er der Wolke immer vertraut und alle seine Ängste waren unbegründet. Aber jetzt fragte plötzlich die Wolke ihn, ob sie es wagen sollten. Er, Sebastian, sollte auf einmal die Verantwortung übernehmen, obwohl sie beide nicht wussten, ob es gefährlich werden und was alles passieren könnte. Er war hin- und her gerissen zwischen seiner Angst und der Sehnsucht, da oben vielleicht seinen Vater zu treffen. Er schaute auf und sah das unendlich große Himmelsgewölbe mit seinen Abermillionen von Sternen und Planeten. In welche Richtung sollten sie nur fliegen? War es nicht völlig aussichtslos, einfach loszustarten, ohne zu wissen wohin?
»Na, was machen wir?«, fragte die Wolke.
»Ich glaube, es hat keinen Sinn«, antwortete Sebastian traurig, »wir würden ihn doch nicht finden.«
Langes Schweigen folgte.
Da rief die Wolke laut und wütend: »Also nein. So nicht! Wenn wir jetzt einfach nach Hause fliegen, ohne es versucht haben, denkst du immer an die verpasste Chance zurück und bereust deine Entscheidung. Hopp, los! Halt dich fest. Wir riskieren es!«

Durch diese Worte angestachelt, fand Sebastian wieder neuen Mut. Er sprang auf die Wolke, legte sich bäuchlings hin und tauchte fast völlig in sie ein. Nur der obere Teil seines Kopfs lugte knapp hervor. »Können wir?«, fragte die Wolke.
»Ja, wir können«, antwortete Sebastian mit klopfendem Herzen.

Da ging es los. Senkrecht starteten sie hinauf in den schwarzen Nachthimmel. Die Berge unter ihnen wurden immer kleiner und kleiner. Eine Stunde lang flogen sie schweigend und mit großer Geschwindigkeit nach oben, Sebastian kam es vor wie eine halbe Ewigkeit, aber die Sterne waren noch kein bisschen näher.
Sie flogen weiter. Zweieinhalb Stunden waren sie jetzt schon unterwegs. Sebastian konnte, wenn er nach unten blickte, die Berge und die Täler kaum mehr voneinander unterscheiden. Alles unter ihnen verwandelte sich in eine gleichmäßige, dunkle Fläche. Die Lichter der Städte waren fast nicht mehr zu sehen, höchstens ab und zu als kleine Fünkchen. Und weiter ging es, noch einmal eine ganze Stunde lang. Die Sterne waren immer noch nicht viel näher, dafür wurden es immer mehr. Sebastian verlor die Übersicht. Kurz vorher hatte er noch zwei größere Sterne gesehen, die er anpeilen wollte, unterdessen waren es sicher über fünfzig hellere und größere Sterne und es tauchten immer neue auf. Nichts sah mehr so aus wie auf den Himmelsgewölbe-Karten, die er zu Hause in seiner Wohnung studiert hatte. Alles war hier ganz anders. Er blickte nach unten und erschrak: Sie waren unterdessen so weit von der Erde entfernt, dass er nichts mehr erkennen konnte. Da war nur noch eine riesige und dunkle, leicht verzerrte und gewölbte Fläche, die sich zu den Rändern hin verbog.
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