Dr. Dellers - TOR Music Productions

  1. Die Fee im Wald

    ein Märchen für Kinder und Erwachsene von Tassilo Dellers

Die Fee im Wald         

(© by Tassilo Dellers, 2007)  

Es war einmal ein fescher, junger Prinz. Er verbrachte seine Zeit mit Ausreiten und Spatziergängen auf den Feldern und Wiesen und Wäldern der elterlichen Ländereien. Mit seinen Freunden veranstaltete er viele fröhliche Picknick-Nachmittage, wo sie zusammen bis spät in die Nacht aßen und tranken, lachten, sangen und musizierten. In stilleren Tagen beschäftigte er sich mit dem Komponieren von Liedern auf seiner Laute oder er verfasste Gedichte.  So verging die Zeit glücklich und unbeschwert. Eines Tages aber kamen seine Eltern mit einem ernsten Anliegen zu ihm. Es sei an der Zeit, dass er sich eine Frau suche und eine Familie gründe. Sie stellten ihm wieder und wieder verschiedenste heiratswillige Töchter von befreundeten Gutsfamilien vor, durchwegs schöne und hübsche und interessante, gebildete Frauen - aber er konnte sich für keine erwärmen. "Lasst mich doch einfach so mit meinen Freunden das Leben und die Kunst und die Natur geniessen..." bat er seine Eltern. Doch diese bestanden auf ihrem Plan. Es sei seine Pflicht, eine Familie zu gründen und den königlichen Stammbaum fortzuführen. Der junge Prinz sah ein, dass er sich beugen musste. 

So ging er eines Tages  gedankenverloren und traurig im Wald spazieren, als er plötzlich zwischen den dunklen Bäumen ein äusserst liebliches Gesicht zu erkennen glaubte. Aber kurz darauf verschwand es wieder. Er lachte und schüttelte den Kopf. Nach ein paar weiteren Schritten spürte er, wie ihn ein zarter Windhauch umspielte. Er blieb verwundert stehen und atmete den angenehmen Duft in sich tief ein, da tauchte das liebliche Gesicht wieder vor ihm auf. Es schien sich aus der Luft herauszubilden, immer stärker und klarer, bis schliesslich eine wunderschöne  junge Frau vor ihm stand. Sie lächelte ihn herzlich an, gleichzeitig strahlte sie etwas sehr ernstes und tiefgründiges aus. Der Prinz stand da wie angewurzelt und brachte kein Wort hervor. Er blickte sie unentwegt an und er spürte ein noch nie dagewesenes Gefühl in sich aufsteigen. Wie magisch angezogen näherte er sich ihr, nahm sie zärtlich in seine Arme und küsste sie. So standen sie im Wald, eine unbestimmte Zeit lang, umarmten sich, küssten sich, blickten sich tief in die Augen und sprachen dabei kein einziges Wort miteinander. Der Prinz fühlte sich ganz luftig und leicht, er schien zu fliegen, alles um ihn herum wurde unwirklich und löste sich beinahe auf, bis er schliesslich das Bewusstsein verlor. 

Als er wieder aufwachte, lag er ausgestreckt auf dem Waldboden im braunen Laub, um ihn herum dämmerte es bereits. Er blickte um sich, suchte seine Prinzessin, seine Fee - vergeblich. Sie war so geheimnisvoll verschwunden wie sie gekommen war. Nachdenklich, aber innerlich glücklich und erfüllt machte er sich auf den Weg ins elterliche Schloss. Zuhause angekommen fiel er sofort in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen, kaum war er aufgewacht, zog es ihn wieder in den Wald. Er war sich nicht sicher, ob er das Ganze nur geträumt hatte, und machte sich, halb verzweifelt, halb hoffnungsvoll auf den Weg. Im Wald begann er zu rufen, er rannte ziellos umher und suchte wie ein Besessener nach seiner Prinzessin. Da auf einmal stand sie wieder vor ihm. Er blieb stehen, atmete stark und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen."Wer bist du, woher kommst du?" wollte er sie fragen, aber er brachte keine Silbe heraus. Ohne ein Wort schwebten sie auf wundersame Weise aufeinander zu, küssten und umarmten sich wieder, stundenlang, die Zeit schien stillzustehen. Und wie am Vortag wachte er abends auf, allein in der Dämmerung auf dem Waldboden. Langsam und nachdenklich schlenderte er nach Hause. Seinen Eltern konnte er ja nichts davon sagen. Was sollte er ihnen denn auch erzählen? Dass er endlich die Liebe seines Lebens gefunden habe, dass es eine Fee im Wald sei, die manchmal erscheint und manchmal verschwindet? 

So vergingen Wochen und Monate. Jeden Tag ging der Prinz allein in den Wald. Seine Freunde machten sich Sorgen und fragten ihn, warum er denn nicht mehr mit ihnen zusammen feiern und musizieren und den Tag geniessen wolle. Aber der Prinz gab nur ausweichende Antworten und zog sich immer mehr von seiner Familie und den Freunden zurück. Die täglichen Besuche bei der Waldfee erfüllten in vollkommen und machten ihn glücklich wie nie zuvor im Leben. Seine Eltern erkannten, dass es offenbar noch nicht die richtige Zeit war, ihren Sohn mit Heiratsplänen zu bedrängen. Obwohl er glücklich zu sein schien, waren sie auch besorgt, aber sie liessen ihn gewähren und beschlossen abzuwarten. 

Nach zwölf Monaten ging der Prinz, wie jeden Tag zuvor, allein in den Wald. An diesem Tag sollte alles anders werden. Er suchte die Stelle auf, wo er seine Angebetete immer traf und begann nach ihr zu rufen. Der Wald blieb stumm, nichts regte sich. Er dachte zuerst, er sei am falschen Ort, aber dann nahm er die vertrauten Bäume um sich herum wahr. Nein es musste hier sein, wie immer, wie jeden Tag. Er fing an, ziellos herumzulaufen, hielt überall Ausschau nach ihr und schrie dabei immer lauter und verzweifelter. Nach einer Stunde ergebnislosen Suchens brach er völlig erschöpft zusammen. Niedergeschlagen kauerte er auf dem Boden, irgendwo im Wald, orientierungslos, unfähig sich zu erinnern, woher er gekommen, wo er überhaupt war. Da spürte er den feinen und so vertrauten Lufthauch um sich herum. Er seufzte laut, schaute auf und da war sie. Ganz nah vor ihm schwebte sie halb in der Luft und blickte ihn traurig an. "Was hast du denn, wo warst du, was ist mit dir?" "Mein liebster Prinz" antwortete sie ihm, zum ersten Mal überhaupt redete sie ihn mit Worten an,  "wir dürfen uns nicht mehr sehen, unsere Zeit ist vorbei." Der Prinz kniete zuerst wie gelähmt am Boden. Er starrte sie verständnislos und traurig an. Darauf flehte er: "Liebste Prinzessin, verlass mich nicht - ich kann ohne dich nicht leben!"  Er umschlang sie mit seinen Armen und wollte sie küssen."Nein, nicht" flüsterte die Fee eindringlich. "Lass mich! Küsse mich nie wieder, sonst muss ich sterben!"Aber der Prinz hörte nicht auf sie. Voller Leidenschaft und Verzweiflung begann er sie zu küssen und an sich zu drücken, nie mehr würde er sie loslassen. In diesem Moment begann die Luft zu zittern, lauter als jedes Donnern krachte es, die Prinzessin stöhnte auf und begann in seinen Armen zu zerfallen. Er sah, wie sie in Sekunden alt und grau wurde. Vor seinen entsetzten Augen verwandelte sie sich in eine hundertjährige Greisin. Das letzte, das er wahrnehmen konnte, bevor sie vollends zu Staub zerfiel, waren ihre traurigen, schönen Augen. "Wo bist du?" Der Prinz konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Er taumelte rückwärts, als sich mit einem düsteren Grollen die Erde öffnete, gerade dort, wo ihre Asche auf den Waldboden gefallen war. Ihre Überreste verschwanden in der Tiefe und einen Augenblick später wuchs vor dem staunenden und fassungslosen Prinzen ein riesiger Baum aus der Erde heraus. Er schoss bis hoch in den Himmel und wurde breiter und breiter. Wie vorhin die Waldfee, alterte auch der Baum in sekundenschnelle um hundert  Jahre, bis er kräftig verwurzelt, weise und würdevoll dastand und seine Äste sich leise im Wind wiegten. Der Prinz schrie auf und suchte erschrocken das Weite. Stundenlang, bis tief in die Nacht, irrte er noch im Wald herum, unfähig zu begreifen, was sich vor seinen Augen abgespielt hatte. Er hörte nicht auf, nach seiner Fee zu rufen, bis er schließlich völlig erschöpft irgendwo im Dickicht zusammenbrach und in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel. 

Bei Tagesanbruch erwachte er mit einem Ruck. Er war sofort hellwach und versuchte sich krampfhaft an jedes Detail des Vorgefallenen zu erinnern. Es musste ein Traum sein, das war nicht möglich, das konnte nicht sein. Während solche Gedanken in seinem Kopf kreisten, versuchte er sich zu orientieren und den Weg  zum Schloss wiederzufinden. Nach einer Weile kam ihm die Umgebung wieder vertrauter vor. Er wurde sogar heiter und sagte sich, wahrscheinlich habe er im Schlaf neben giftigen Blüten gelegen und deren Düfte eingeatmet. So, nur so konnte diese irrsinnige Geschichte in seinem Kopf entstehen. Ja, so musste es gewesen sein! Zuversichtlich, fast fröhlich, schlug er den Weg nach Hause zum Schloss ein. Da kam er an einem grossen und breiten, sehr alten Baum vorbei, der hier nie zuvor gestanden hatte. Wie ein Blitz ging ihm die traurige Wahrheit auf.  Lange Zeit blieb er vor dem Baum stehen. Er ging um ihn herum, berührte ihn wieder und wieder mit seinen Händen, als ob er sich vergewissern wollte, daß er real sei. Dann fiel er mit einem lauten Aufschrei auf die breiten und knorrigen Wurzeln. So kniete er stundenlang, weinte und bat seine Geliebte um Verzeihung. Er flehte sie an, wiederzukommen, obwohl er tief im Inneren wusste, dass es unwiederbringlich zu spät war. Erschöpft und voller Sehnsucht legte er seinen Kopf sanft auf die Wurzeln des Baums und schlief ein. Am Abend, als er wieder erwachte, fand er sich in einem Meer von wunderschönen, farbigen Blumen wieder. Jede einzelne seiner Tränen hatte sich mit der Erde vermischt und eine Blume hervorgebracht. Die letzten Strahlen der Sonne fielen durch die Baumkronen in den Wald und beleuchteten die Blumen mit einem warmen Goldrot. Der Duft und die Schönheit dieser Pracht durchfuhr ihn wie ein zartes Beben. Er liebkoste die Blumen mit seinen Fingerspitzen und wurde dabei ganz ruhig und ausgeglichen. 

Im Laufe der Zeit nahm der Prinz seinen alten Lebensstil wieder auf. Er traf sich mit seinen Freunden, war oft fröhlich und ausgelassen, feierte und widmete sich wie früher der Musik und der Poesie. Zur Freude seiner Eltern lernte er bald darauf auch eine junge, hübsche Frau kennen und lieben. Nach kurzer Zeit heirateten sie und seine Frau gebar ihm zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.

Selten, etwa ein bis zwei Mal im Jahr, verschlug es ihn auf seinen Spaziergängen an die Stelle im Wald, wo der alte Baum stand. Er setzte sich kurz hin, Erinnerungen kamen hoch und er vergoss ein paar Tränen. So kam es immer wieder vor, dass ein Wandersmann, der zufällig den alten Baum kreuzte, über die wunderschönen, frisch gewachsenen Blumen zu seinen Füssen staunte und sich nicht erklären konnte, wie diese wohl dahin gekommen seien.

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(© by Tassilo Dellers, 2007)